Erleuchtung IV

Yazan Barakah
13. Mai 2011 • Kommentare: 1

„Das Auge ist sehend, doch die Hand ist kurz.

 

Im Sand der Zeit …

Die Nacht des zweiten Neumonds seit seiner Ankunft im Hause Maliks war schon fast vorüber, doch Yazan fand keinen Schlaf. Völlig still lag er auf dem Boden der stickigen Hütte und wartete auf den Morgen. Am Abend noch hatte Malik einen der Jungen zu sich gerufen. Bisher war er nicht zurückgekehrt. Yazan wusste immer noch nicht, wozu Malik mitten in der Nacht die Dienste eines seiner bīzabān benötigen könnte, keiner der Jungen sprach je darüber. Doch noch nie hatte ein Junge die ganze Nacht im Herrenhaus verbracht. Nagender als die Sorgen erwies sich jedoch der Hunger. Hatte Malik ihnen am ersten Tag noch erlaubt, sich die kleinen Bäuche mit allerlei Köstlichkeiten vollzuschlagen, so erhielt jeder von ihnen vom ersten Arbeitstag an lediglich noch ein paar Fladen und etwas Wasser; gerade genug, um für die Arbeit auf den Beinen zu bleiben. Schon öfter hatte er beobachtet, wie die Jungen, die Malik des Nachts zu sich rief, mit einer kleinen Leckerei wieder zurückkehrten. Allein der Gedanke daran lies seinen Magen laut knurren. In der absoluten Stille, die hier und im ganzen Haus herrschte, bei Tag wie bei Nacht, erschien ihm jedes Geräusch umso lauter, störend, gar erschreckend.

Mit dem Mut der Verzweifelten erhob sich Yazan von seiner Schlafstätte auf dem kalten, harten Boden und schlich sich nach draußen, jede seiner Bewegungen unendlich langsam, um keinen der anderen Jungen aufzuschrecken.

Nahezu lautlos schlich er auf nackten, wunden Füßen durch die endlosen Flure aus kaltem Sandstein, bahnte sich im fahlen Mondschein einen Weg durch das Labyrinth aus Gängen bis in den obersten Stock. Die Vorratskammer lies Malik jeden Abend vom bīzabān başi abschließen. Der einzige Ort mit Essbarem blieb zu dieser Zeit also das Arbeitszimmer.

Doch als er auf dem Weg dorthin die Schlafgemächer seines Herrn passierte, drangen leise Stimmen an sein Ohr. Stirnrunzelnd betrachtete er die Tür. Sie war nur angelehnt.

Yazan hielt den Atem an und lugte vorsichtig in den verheißungsvollen Raum.

 

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„Wie ist dein Name, Kind?“

„T-T-Tahir, Herr.“

„Tahir … weißt du was das bedeutet, Junge?“

„N-N-Nein, Herr.“

Die Mundwinkel des Alten zuckten kaum merklich nach oben. „Tahir heißt ‚Reinheit‘, Junge.“ Malik beugte sich weit vor, sodass er nur noch Zentimeter vom Gesicht des schwarzgelockten Jungen entfernt war. „Bist du rein, Tahir?“

„Ich … ich hab‘ mich erst letzte Woche gewaschen, Herr.“

Malik lachte heißer auf, ein Geräusch wie Schleifpapier, und schüttelte sachte den Kopf.    „Ich mache dir einen Vorschlag, Junge. Du leistest einem alten Mann noch etwas Gesellschaft und ich lasse dir ein Bad ein. Damit du deinem Namen auch würdig bist.“

Ungläubig sah der Dreizehnjährige ihn an. „… ein richtiges Bad? M-m-mit Wasser?“

„Mit Wasser. Aber es muss unser Geheimnis bleiben, verstehst du?“

„J-j-ja, Herr.“

„Gut.“ Maliks Stimme wurde eine Spur kühler, härter. „Ich würde dich nur ungern bestrafen müssen.“ Ein freundliches Lächeln, das einige Lücken sowie einen Goldzahn offenbarte, hielt nur für einen Augenblick an, ehe er ernst fortfuhr:  „Zieh dich aus.“

„Herr –„

Ein einziger, warnender Blick des Alten genügte, um den Jungen wieder verstummen zu lassen. Schweigend entledigte er sich seiner vom Wüstenstaub bedeckten Kleidung und stieg in den Zuber, zur Hälfte gefüllt mit klarem Wasser, noch angenehm aufgeheizt vom Tage. Für keine Sekunde wich der Blick des Alten von ihm, doch Tahir versuchte tapfer, sich davon nicht verunsichern zu lassen.

Wohlwollend nickte der Alte. Mit dem Zeigefinger der verbliebenen Hand rieb er sich über was auch immer sich unter der Augenklappe verbergen mochte, nahm dann einen Schwamm und tauchte ihn ins Wasser, bis er sich vollgesogen hatte. Dann fuhr er damit sanft über den Rücken des Jungen, der so dünn war, dass jeder einzelne Wirbel seines Rückgrads gut zu sehen war.

„Du zitterst ja, Tahir.“

„… d-d-das Wasser ist kalt, Herr.“

Schlagartig wurde die Stimme des Alten zu einem feindseeligen Zischen. Er wurde ungeduldig. „ Rede keinen Unsinn, Junge. Halt jetzt still!“

Wie in Zeitlupe glitt der vollgesogene Schwamm über die magere Brust des nun leise wimmernden Jungen, hinab zum Bauch, immer weiter abwärts, bis er schließlich unter Wasser verschwand. Der Atem des Alten wurde immer schwerer, plötzlich ganz nah am Nacken Tahirs. Scharf holte der Junge Luft – ein Geräusch, dass ein unerwartetes Echo fand.

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Der Kopf des Alten ruckte zum Türspalt, durch den Yazan noch immer seinen Kopf steckte. Augenblicklich ließ Malik den Schwamm fallen, um mit wutentbranntem Gesicht zur Tür zu eilen.

„DU!“

Vor Angst gelähmt sah Yazan hilflos zu, wie Malik auf ihn zukam, unaufhaltsam wie ein Sandsturm, ihn am Kragen packte und ihn mit einer Kraft nach oben zog, wie man sie bei dem alten Einarmigen nie vermutet hätte.

Behim! Was tust du hier?!“

Sahmachni! Sahmachni! Ich – ich hatte solchen Hunger!“

„Du wagst es?! Im Zuber ertränken sollte ich dich!“

„Herr! Ich flehe euch an!“ Erste Tränen kullerten in seiner Verzweiflung die Wangen herunter. „Ich habe nichts gesehen! Ich habe nichts gesehen!“

Malik warf einen flüchtigen Blick zurück ins Zimmer. Immer noch saß Tahir im Wasser, leichenblass und am ganzen Leib zitternd, und starrte mit angstgeweiteten Augen zu ihnen hinüber. Die Wut wich etwas aus Malik. Unsanft setzte er Yazan wieder ab.  „Sehr richtig, du hast nichts gesehen. Und du wirst auch nicht darüber sprechen. … Ja, du wirst überhaupt nicht mehr sprechen, bīzabān, oder ich lasse dir wirklich die Zunge herausreißen. Du hast Hunger? Du weißt nicht, was Hunger ist! Aber du sollst wahren Hunger erfahren, oh ja, schon bald. Halbe Ration, bis zum nächsten Neumond! Du denkst, du kannst hier nachts herumstreunen wie ein räudiger Hund?! Von jetzt an wirst du die schwersten Arbeiten übernehmen. Du wirst schuften, bis dir die Hände bluten! Vielleicht lehrt dich das, die Nacht zum ruhen zu nutzen. Jetzt geh mir aus den Augen!“

So schnell ihn seine Füße trugen flüchtete Yazan aus dem Herrenhaus. Erst als er wieder im Freien stand erlaubte er sich, einen Moment Luft zu schnappen. Mit dem Rücken an die Wand der kleinen Lehmhütte gelehnt ließ er sich zu Boden sinken, vergrub das Gesicht in den Händen, und kämpfte die Tränen zurück. Vielleicht noch eine Stunde, dann würden auch die anderen bīzabān erwachen. Er hatte einen langen Tag vor sich. Einen langen Monat. Sein Magen knurrte protestierend.

  1. Giselher sagt:

    Brrr. Das Schweigen erklärt sich und auch sonst dürfte der kleine Yazan so einige Traumata mitgenommen haben.

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