Manche Veränderungen kommen über Nacht.
Du gehst abends zu Bett, schläfst ruhig und tief, und am nächsten Morgen wachst du auf und stellst fest, dass alles anders ist. Du kannst dir nicht erklären, was geschehen ist, denn die Sonne ist aufgegangen wie an jedem Morgen und da hängt immer noch dieses Bild an der Wand, das du längst abhängen wolltest. Die Farben der Welt sind dieselben geblieben. Nur bei genauerem Hinsehen glaubst du zu entdecken, dass sie eine Spur heller oder dunkler als bisher erscheinen, doch das ist eine Täuschung: Es ist deine Wahrnehmung, die sich verändert hat, weil du selbst von heute auf morgen ein anderer geworden bist. Und deshalb hängst du jetzt auch dieses verdammte Bild ab.
Andere Veränderungen kündigen sich an. Du spürst sie auf dich zukommen, langsam und unabwendbar wie den Wechsel der Jahreszeiten. Kleine und große Ereignisse gehen solchen Veränderungen voraus, die in keinerlei Zusammenhang zu stehen scheinen. Doch irgendetwas im hintersten Winkel deines Geistes setzt diese Ereignisse und ihre folgenden Konsequenzen geduldig zusammen wie ein Puzzlespiel, und im selben Maß, wie das Puzzlespiel Gestalt annimmt, vollzieht sich in deinem Inneren ein Wandel. Stück für Stück, Schritt für Schritt: Eine Art unbemerkte, zweite Geburt.
Mellagaron kann sich nicht erklären, was geschehen ist, denn diese Veränderung kam über Nacht. Über eine Nacht, wie es nie eine zweite gab, davon war er fest überzeugt. Er fühlt sich befreit und ist fest entschlossen, sein Bild von der Wand zu nehmen, und zu Nanndir zu gehen. Er machte ihm Angst, aber ist vorbei, denn es ist über Nacht von ihm abgefallen. Die Angst davor, in Widersprüche verwickelt zu werden, wenn er sich zum Lügen hinreissen lässt, und davor, sich noch einen Feind im Haus zu machen. Doch das ist zu verkraften, angesichts der schon gewonnen Freunde. Auch der Prinz ist nur ein Mensch. Ein sprachlich begabter Mensch mit einem scharfen Verstand und großer Macht, und doch eben nur ein Mensch, dem man Herr werden kann. Und ausserdem: Die Sache wird durch die Angst nicht besser, ganz im Gegenteil. Ohne Angst an diese Sache heranzugehen bedeutet, mehr Handlungsoptionen offen zu haben. Es geht darum, das bestmöglichste Ergebnis zu erzielen und die Konsequenzen sind in jedem Fall zu tragen, doch deren Ausmaß kann man begrenzen.
Sein Körper durchstößt den Schaum und mit unverkennbaren Geräuschen lässt sich Mellagaron in den Zuber gleiten. Während er einen leisen Seufzer vernehmen lässt, schweift sein Blick über das aufgewühlte Bett, die zerknautschten Sitzkissen vor dem Kamin und das Silberzeug. Die Platte, auf der sich noch die Reste eine Brotmahlzeit befinden, die zwei Becher mit den Wappen darauf, die wie es scheint achtlos auf den Boden geworfen wurden und die Kerzenständer mit den abgebrannten Kerzen reflektieren das einfallende Licht der Vormittagssonne. Und einer Vorahnung gleich beschleicht ihn die gedankenlose Gewissheit, dass der folgende ein guter Tag wird, gleich dem Morgen.
Auch ohne den Charakter M. zu kennen – toller Blog! 🙂
Hach das liest sich fein!
Was für ein schöner Morgen! 🙂