Blickwinkel

Alessario Vargas
2. Dezember 2011 • Kommentare: 2

Vor Monaten…

Er mußte eine Auswahl treffen. Alessario seufzte. Das war gar nicht so einfach. Wenn es nach ihm ginge, dann würde er sie alle mitnehmen.
Aber er hatte nur diesen einen Behälter, um eine Handvoll Bilder unbeschadet, und vor allem vor Nässe geschützt, auf einem Pferd zu transportieren.
Unschlüssig schaute er sich in seinem kleinen Atelier im Dachgeschoss des Hauses um und besah sich nachdenklich einige der Gemälde, die dicht an dicht an der Wand aufgehängt waren.
Möglicherweise war die Wahl, die er treffen musste eine andere.
Er wandte sich von den Gemälden ab und blätterte zwischen den frisch mit Leinwand bespannten Holzrahmen, die auf dem Boden in der Ecke an der Wand lehnten.
Er nahm ein Ensemble aus zwei aneinander gebundenen Bildern heraus und löste die Knoten, um sie sich anzusehen. Diese hier sollte er mitnehmen. Nicht, weil sie ihm so gut gefielen, obwohl sie technisch einwandfrei gefertigt waren, wie er kritisch feststellte. Nein, diese Bilder hier, von denen seine Familie nicht wußte, daß sie existierten, hätten lästige Fragen aufgeworfen, hätte man sie entdeckt. Er würde beide mitnehmen, denn eines hatte ohne das andere kaum eine Bedeutung für ihn. Schmunzelnd setzte er sich in seinen Korbstuhl und betrachtete sie.

Das erste Portrait zeigt eine hübsche und ernste Frau in mittleren Jahren mit aufwändig aufgestecktem Haar. Obwohl sie schon nicht mehr blutjung zu sein scheint, verunziert noch kein graues Haar das schimmernde Rotbraun der sorgfältig frisierten Haarflut. Ihre blauen Augen blicken fest und klar auf den Betrachter, ihr Kinn scheint leicht erhoben zu sein, was ihrer Erscheinung Entschlossenheit verleiht.
Der schlichte Perlenschmuck an ihren Ohren und ihrem Hals kündet von ihren Tränen.
Die Portraitierte wird in einem Zimmer sitzend dargestellt. Vermutlich handelt es sich um die Wohnstube ihrer Familie.
Sie sitzt ein wenig links vom Bildmittelpunkt an einem Tisch und legt eine Hand auf ein Buch, anscheinend handelt es sich um geschäftliche Dokumente.
Schauen wir über ihre rechte Schulter an ihr vobei, sehen wir das eigentlich bildbeherrschende Element dieses Portraits:
Ein großes schwer gerahmtes Bild, in dunklen Tönen gehalten aber in warmes Licht gehüllt, das den verstorbenen Ehemann zeigt. Eingerahmt von feierlichen Kerzen und frischen weißen Calla-Blüten scheint es von ihrem Respekt und fortdauernder Liebe für den Verblichenen zu zeugen. Ihre entschlossene Haltung und die Hand auf dem Geschäftsbuch deuten ihre Bereitschaft an, das Erbe und die Geschäfte ihres Mannes weiter zu führen.
Sie trägt dunkle Witwenkleidung, das Decolleté züchtig mit feinem Plisseestoff bedeckt, gehalten von einer ovalen Gemme, die einen Frauenkopf im Profil zeigt.
Eine Schale mit Obst auf dem Tisch steht für Wohlstand. Auch die Einrichtung des Raumes mit mehreren Bildern an den seitlichen Wänden – Stillleben und Landschaften, Bücherregale und eine verschlossene Truhe in einer Ecke neben einer Tür – gibt einen Eindruck von materieller Fülle, ohne aufdringlich zu wirken.
Dieses Portrait hebt die Tugenden der jungen Witwe hervor, ein gefälliges Zeugnis einer ehrbaren Dame von gutem Ruf.

Das zweite Bild zeigt offenbar die selbe Dame in dem selben Zimmer, aber ein paar Dinge sind hier verändert worden, um einen gänzlich anderen Eindruck zu erwecken.
Die auffälligste Veränderung dürfte am Bild des Verstorbenen zu erkennen sein: Es ist kaum noch zu sehen.
Hohe Vasen mit bunten Blumensträußen verdecken das Bild fast vollständig. Die Kerzen, im oben beschriebenen Bild noch Ausdruck des stillen Gedenkens und der Hingabe, wirken jetzt eher wie die romantische Beleuchtung eines Stelldicheins an einem geheimen Ort. Ebenso geben die Blumen in den Vasen eher das Bild einer ganz irdischen Liebeserklärung aus dem hier und jetzt, so farbenfroh und lebendig leuchten sie in dem warmen Licht.
Anscheinend hat jemand die Vasen absichtlich so platziert, vielleicht, um sich nicht von den Augen des Verstorbenen beobachtet zu fühlen?
Die Witwe selbst, die im ersten Bild einen so entschlossenen Eindruck machte, scheint hier ein wenig in sich gekehrt zu sein.
Ihre Erscheinung wirkt alles in allem etwas unordentlich. Ihr Haar ist ungekämmt und schlampig hochgesteckt, es lösen sich bereits einzelne Strähnen und fallen auf ihre Schultern herunter und schmiegen sich an ihren Hals, bis hinunter in ihr Decolleté, das hier offen und ohne Plissee gezeigt wird.
Tatsächlich scheint sie es eilig gehabt zu haben, sich hierher an den Tisch zu setzen, denn ihr Mieder ist schief zugehakt und zeigt zu viel von dem, was es eigentlich verstecken sollte. Im Gegensatz zu der anmutigen, mädchenhaften Darstellung auf dem ersten Bild gibt die schamlose teilweise Entblößung ihrer üppigen Rundungen ihr hier ein vulgäres und liederliches Aussehen.
Eine ihrer Hände verirrt sich wie zufällig an den Saum ihres weiten Ausschnitts und scheint die Falten im Stoff zu liekosen. Ihre leicht geröteten Wangen, das sanfte Lächeln und der abwesende Blick geben weitere Hinweise darauf, wie sich diese Dame bis eben die Zeit vertrieben haben mag.
Die gedeckte Farbe ihrer Witwenkleidung ist hier durch ein dunkles, aber kräftiges Rot ersetzt worden.
Die Tür, die im ersten Bild geschlossen war, steht nun offen und gibt den Blick frei auf ein Schlafzimmer.
Das Bettzeug liegt aufgebauscht und zerdrückt da und hängt zum Teil vom Bett herunter, davor können wir ein Paar Männerstiefel erkennen.
Der ovale, recht große Schminkspiegel im Schlafzimmer offenbart eine männliche Gestalt mit wirrem dunklem Haar, der gerade an den Knöpfen seines Hemdes nestelt. Ob er es gerade an- oder auszieht liegt im Auge des Betrachters. Eine Hose trägt er nicht.
Wer an dieser Stelle nach einer Ähnlichkeit mit der Statur und dem Aussehen des Malers sucht wird enttäuscht werden. Es scheint sich tatsächlich um einen anderen Mann zu handeln.
Die Dame selbst wirkt auf diesem Bild nicht mehr ganz so frisch und tugendhaft wie auf dem ersten Portrait.
Ihr Haar ist zwar genauso voll und glänzend wie in der ersten Darstellung, schauen wir aber genauer hin, so sehen wir die helleren, grauen Übergänge am Haaransatz. Der Maler hat offenbar einen ausgeprägten Sinn für die ungeschönte Darstellung, denn die Dame sieht hier ungesund bleich und ein wenig aufgeschwemmt aus. Das Blau ihrer Augen wirkt trüb und verwässert.
Von einem klaren, entschlossenen Blick ist hier nichts mehr zu erahnen. Die Person auf diesem Bild scheint lasterhaft und vergnügungssüchtig zu sein.
Ihre andere Hand liegt auf einem Brief, der offenbar zum geschriebenen Text ein paar Rosenblütenblätter enthielt.
Um Geschäfte dürfte es hier wohl nicht gehen.
Die Anhänger ihrer Ohrringe scheinen aus Geldmünzen zu bestehen, genau wie das Geschmeide um ihren Hals.
Das Obst in der Schale wirkt hier überreif und welk, daneben steht ein Kelch, der halb mit Wein gefüllt ist und unter dem ein paar Mohnblumenblüten liegen.
Die Bilder, die im ersten Gemälde an den Wänden zu sehen waren, sind hier allesamt durch eitle Spiegel ersetzt worden.
Zu guter Letzt ist auf der Gemme, die im ersten Bild ihr Decolleté zierte, hier kein Frauenprofil abgebildet, sondern ein grinsender Totenkopf.

Alessario hüllte die Gemälde in Leintücher, knotete sie wieder mit dem Band zusammen und nickte zufrieden.
Und nun würde er drei weitere Bilder aussuchen.

  1. Sethur sagt:

    Ich fuehle mich zwar recht unwissend, aber trotzdem: Guuuht! Sehr stilvolle Idee und toll geschrieben! 🙂

  2. Fianah sagt:

    Ja echt großartig geschrieben…man sieht die Bilder direkt vor sich! 😀

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