Epilog – IV – Fabelwesen

Lynne Salas
29. April 2009 • Kommentare: 1

Sie saß auf dem Stuhl in der Nähe des Bettes und blickte aus dem Fenster, den kleinen Jungen im Arm halten. Der Wind streifte draußen lautlos über das Gras und schob die abgefallenen Halme der Kräuterstecklinge herum. Die Wolken verdeckten mal die Sonne, mal nicht. Sie bildeten seltsame Gestalten, Figuren, die sie mit Erinnerungen füllten. An Fabelwesen. Einhörner, Feen und Drachen.

Das Einhorn war das weise, magische Geschöpf, welches sie stets um Rat fragen konnte. Dann gab es eine Elfe, ein kleines, zauberhaftes Wesen, das ihr immer Mut zusprach, sie immer verstand. Und dann war da noch ein Drache, dessen Körper aus Feuer bestand. Er war der Hüter ihrer Seele, der stille Beschützer, an den sie sich wandte, wenn sie sich unsicher oder ängstlich fühlte.

Doch nun sah sie diese Wesen kaum noch. Sie fanden sich nicht mehr zurecht, standen ängstlich in einer Ecke und wagten sich nicht heraus.

Das Einhorn hob langsam seinen Kopf. „Wir sollen dich beschützen, dich ermutigen und bestärken, aber hier fühlen wir uns nicht wohl,“ sprach es leise und zaghaft. Die Elfe, die auf dem Kopf des Drachen saß, denn ihre Flügel schlugen nicht mehr richtig, erhob sich kurz in die Lüfte und flog rasch zu der der Frau und dem Kind. Sie hielt sich an einer ihrer blassroten Haarsträhnen fest während sie flüsterte: „Hier fühlen wir uns nicht mehr wohl. Und du dich auch nicht.“

Sie wendete den Blick zu dem Geschöpf, legte einen Finger auf seinen Kopf und streichelte es schweigend.

Der Drache schaute auf. „Du bist jetzt erwachsen geworden – und hast den Sinn für das Schöne verloren. Darum siehst du uns fast nicht mehr. Stattdessen schreibst du uns Rollen zu, wie etwa, wir seien dein Unterbewusstsein. Aber das sind wir nicht. Wir können dir nicht helfen, wenn du uns nicht sehen willst.“

Lynne sah ihn fragend an. „Ich dachte immer, die Welt will, dass wir erwachsen werden,“ spricht sie tonlos, senkt den Blick auf das Kind, das friedlich zu schlafen scheint.

Das Einhorn senkte seinen Kopf abermals. „Nicht alle wollen es, aber viele werden es. Erwachsen sein heißt nicht, seine alten Freunde zu vergessen, nur weil sie Phantasiegestalten sind.“

Die Elfe fliegt mühsam zum Drachen zurück. „Hast du dich nicht wohl gefühlt, damals?“

Sie schwieg. Als sie aufsah, war die Ecke leer. „Doch, es war eine schöne Zeit,“ kam es mit tränenerstickter Stimme über ihre Lippen.

„Mit wem redet Ihr?“, fragte der Mann, der in ihrem Zimmer stand, mit tiefem Brummen in der Stimme.

„Mit dem Einhorn, der Elfe und dem Drachen,“ erwiderte Lynne leise.

„Einhorn? Einhörner gibt es nicht,“ lacht er knurrend auf. „Also – wie viel?“

  1. Alejandro Salas sagt:

    Ich spreche da aus Erfahrung: Nur, weil man etwas nicht sieht heißt das nicht, daß es nicht da ist… *nick und ein wenig lächel*

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